Ist das die neue Normalität?

 

Kaum haben sich die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten zu Lockerungen im Rahmen der Corona-Pandemie geäußert, fühlen sich viele Menschen dazu bemüßigt, ihre Gefühle dazu zu äußern. Die Ängstlichen befürchten, dass bald die nächste Welle kommt, weil doch alle anderen so unvernünftig sind. Sie wollen nicht ohne Abstand im Kino sitzen und fürchten sich vor Menschen ohne Maske.

 

Gleichzeitig häufen sich die Jubelrufe vieler hart Getroffener. Sie planen, organisieren, laden ein, bereiten vor und kündigen ihre Wiedereröffnung und ihren nächsten Auftritt an. Normalität! Endlich bekommen sie ihre Freiheit zurück. Ich frage mich: von wem? Wer hat sie ihnen weggenommen? Warum haben sie das zugelassen? Und wie sieht diese Freiheit genau aus bzw. wovon hängt sie ab? Ist sie womöglich gar nicht so frei, wie sie tut?

 

Endlich wieder ein normales Leben

 

Mein Eindruck ist, dass viele Menschen, die öffentlich zu Wort kommen oder sich melden, es kaum erwarten können, in ihr „altes“ Leben, die sogenannte Normalität zurückzukehren. Damit meinen sie das Leben, das sie führten, als Corona noch ein mexikanisches Bier war und kein heimtückisches Virus, das mit uns Katz und Maus spielt.

 

Sie wollen sich wieder mit ihren Freund:innen und Verwandten treffen, ins Theater, Konzert, Kino, Stadion oder in Clubs gehen, feiern, trinken, reisen und so ihre „Freiheit“ genießen.

 

Sie sehnen sich nach einem Leben ohne sogenannte Einschränkungen, wollen spontane Entscheidungen treffen und sich ins Menschengetümmel stürzen. Und das alles ohne Impfnachweis, Maske und Schnelltest. Und ohne schlechtes Gewissen.

 

Ich gönne ihnen das von Herzen

 

Wenn es sie nachhaltig glücklich macht, dürfen alle Menschen genau das tun. Und wenn es der Wirtschaft hilft, natürlich auch ;-).

 

Allerdings möchte ich die Freiheit behalten, all das nicht tun zu müssen. Zumindest nicht ständig und schon gar nicht zur Ablenkung.

 

Diese Episode Covid einfach zu löschen und zu vergessen das geht nämlich nicht. Weder in unseren Köpfen, noch in den Geschichtsbüchern.

 

Ich glaube, es wird sehr lange dauern, bis wir wieder mit einem guten Gefühl und ohne Desinfektionsmittel in volle Flugzeuge steigen, in überfüllten Einkaufszentren shoppen oder in engen Restaurants essen. Das oberflächliche Bussi-Bussi-Gehabe mit seinen verlogenen Sympathiebekundungen wird hoffentlich endlich out sein. Und Massenveranstaltungen mit Zigtausend Menschen sind, auch aus Gründen, die nichts mit Viren zu tun haben, irgendwie von gestern.

 

Jetzt mal ganz konkret: Wollen wir wirklich zurück in eine „Normalität“ wie vor der Pandemie?

 

  • Wollen wir all die wunden Punkte, die uns Corona so schonungslos gespiegelt hat, zukünftig wieder ignorieren? Als hätten wir keine Ahnung? Und trügen keine Verantwortung?

 

  • Wollen wir das unfaire Gesundheitssystem mit dem dortigen Fachkräftemangel, der fehlenden Wertschätzung für diese Berufe, der undurchsichtigen Kostenübernahme für Leistungen und der immer schlechter werdenden Versorgung mit Krankenhäusern und Arztpraxen in ländlichen Gebieten wirklich so weiter aufrecht halten?

 

  • Ist das Bildungssystem, das sich seit mehr als 100 Jahren scheinbar gar nicht modernisiert hat, auch für die nächsten 100 Jahre in Stein gemeißelt?

 

  • Sollen die Lehrpläne, die Struktur des Schulalltags, die Anforderungen an Schüler:innen und Lehrer:innen, die Bedingungen für Abschlüsse, die Unterschiede in den 16 deutschen Bundesländern, die desaströsen Zustände in den Schulen (Toiletten etc.), die unfaire Behandlung von Kindern mit Migrationshintergrund oder aus armen Familien, die teilweise weltfremde Ausbildung, die die Kinder bekommen, die fehlende Inklusion von beeinträchtigten Menschen, die Fokussierung auf das Abitur als einzig wertvollen Abschluss, die Vernachlässigung von zwischenmenschlichen Themen und der harte Wettbewerb, dem Schüler:innen ausgesetzt sind, so bleiben, wie sie gefühlt schon immer waren? (Ich bitte um Entschuldigung für diesen langen Satz).

 

  • Stellen wir die ausufernde individuelle Mobilität, den Autobesitz und das Recht auf Flugreisen und Kreuzfahrten weiterhin als Zeichen einer florierenden Welt dar?

 

  • Sind uns zugeparkte Straßen und Radwege, Parkhäuser und Tiefgaragen, Staus und SUVs weiterhin wichtiger als grüne Städte, in denen Kinder gefahrlos fahrradfahren können, Menschen sich auf ihrem Balkon treffen können, ohne Abgase einzuatmen oder gegen den Straßenlärm anschreiben zu müssen, Begegnungsstätten in Wohnvierteln, Nahverkehr und Nahversorgung in ländlichen Gebieten und Dörfern?

 

  • Ist die Arbeit, so wie wir sie seit der Industrialisierung organisieren, wirklich das, was uns Menschen guttut oder ist sie einfach das, was die Wirtschaft am Laufen hält und die Menschen vom Selberdenken abhält, weil sie für die meisten der einzige Weg ist, genug Geld zu verdienen, um teilhaben zu können am Leben?

 

  • Wollen wir die unterschiedliche Bezahlung zwischen einigen wenigen Top-Managern und Top-Fußballspielern (aufs Gendern verzichtet, da beide i. d. R. männlich) und den restlichen Arbeitenden weiterhin einfach so hinnehmen? Ist es in unserem Sinne, dass Unternehmer:innen sich mehr und mehr bereichern, während Löhne seit vielen, vielen Jahren real nicht gestiegen sind?

 

  • Akzeptieren wir weiterhin, dass Arbeit nicht erfüllend oder schön sein muss, solange sie bezahlt ist?

 

  • Können wir auch zukünftig ohne schlechtes Gewissen die Arbeit, die produzierend und überwiegend männlich ist, so viel höher entlohnen, als die Arbeit, die fürsorgend, heilend, kreativ oder schlicht fürs tägliche Leben notwendig (und damit meist weiblich) ist?

 

  • Wollen wir zurück in eine Zeit, in der Diskriminierung, Rassismus, Hass und Gewalt als kurze Episoden inszeniert waren, nach denen wir wieder zur Tagesordnung zurückgekehrt sind?

 

  • Ist eine Normalität, in der Menschen, die nicht der Norm entsprechen, systematisch ignoriert, ausgegrenzt, behindert, schlechter gestellt, stigmatisiert, bedroht, verletzt, terrorisiert oder gar getötet werden, eine Normalität, für die es sich zu leben lohnt?

 

  • Sind Empörung, Drohungen, Gewalt, Waffenbesitz und deren Einsatz gegen Unschuldige und gegen Polizist:innen Teil der Normalität, die wir zurückwollen?

 

  • Ist eine Normalität, in der Flächenfraß, rasender Energiehunger, Lebensmittelverschwendung, Artensterben, die Sucht nach Ablenkung und die Gier nach Besitz und Status zu einer fast unumkehrbaren Zerstörung unseres gemeinsamen Planeten führen, wirklich etwas, nach dem wir uns zurücksehnen sollten?

 

  • Sind die exorbitanten Unterschiede zwischen den reichen Industrieländern auf der nördlichen Halbkugel und den Ländern des globalen Südens gerecht, nachhaltig und vertretbar – auch in Zukunft? Wollen wir so weitermachen wie bisher und uns dann wundern, wenn sich immer mehr Menschen aufmachen in Richtung Europa oder Nordamerika, weil in ihren Ländern keine Nahrung mehr wächst, nicht genügend Wasser vorhanden ist oder ihre Heimat vom steigenden Meeresspiegel (alternativ von blutigen Kriegen) zerstört wird?

 

  • Ist uns Wirtschaftswachstum nach wie vor das Allerwichtigste, wenn es um gelungenes Leben, Normalität, Erfolg, Gewinnen und Innovation geht?

 

  • Oder können wir den Begriff „Wachstum“ qualitativ so definieren, dass er für inneres Wachstum, gesteigertes Wohlbefinden, langjährige Gesundheit, mentale Stabilität, fröhliche Zuversicht, mehr Zu-Frieden-heit, sagenhaften Mut, ehrliche Liebe steht?

 

  • Für mehr Miteinander und Kooperation statt Ellenbogen und Wettbewerb?

 

  • Für mehr Wertschätzung statt Wertabschöpfung, für mehr Zuhören statt Hinausposaunen, für mehr Teilen statt Wegwerfen, für mehr Sein statt Haben?

 

Kurzum: Können wir diese bisher zwei Jahre Pandemie als den wirklich heftigen Wink mit dem Zaunpfahl, den Weckruf für die Menschheit, den Hilfeschrei des Planeten wahrnehmen, die mehr als nötig waren, um endlich die echt wichtigen Themen anzugehen, die wir Jahrzehntelang erfolgreich vertuscht, versteckt, verdeckt und ignoriert haben?

 

Welche Art von Normalität wünschst du dir? Und was willst du auf keinen Fall zurückhaben?

 

Teile deinen Blickwinkel doch bitte in den Kommentaren. Danke.

 

PS: Sei vorsichtig mit deinen Wünschen! Sie könnten wahr werden!

 

Gabriele

Gabriele Feile fliegt und nimmt von dort oben große Zusammenhänge intensiv wahr. Sie baut Brücken, am liebsten zwischen scheinbaren Gegensätzen. Damit die Welt in Balance kommt. Und alle Menschen auf der #Schmetterlingsfrequenz schwingen.

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