Gilching, ich muss dir was sagen:

 

Ich bin dann mal weg. Gute 11 Jahre habe ich es mit dir ausgehalten – und du mit mir. Für mich gilt: So lange konnte ich es noch nirgends. Aushalten, meine ich.

 

Vielleicht ist doch was dran an der Liebe auf den ersten Blick.

 

Damals im Spätsommer 2010, als ich dich zum ersten Mal sah, war es sofort um mich geschehen. „Hier werde ich leben!“ Diese Worte formten sich wie von selbst in meinem Kopf. Ich würdigte die anderen Gemeinden, in denen es freie Wohnungen gab, keines Blickes mehr. Mein Herz hatte sich schon entschieden.

 

Am Argelsrieder Bahnhof, wo ich in diesem Moment die ersten Schritte auf deinem Boden machte, kann es nicht gelegen haben. Dieser war damals noch schmucklos und verlassen. Ganz anders als heute mit seinem kultigen Café und der schönen Fassade.

 

Am Ortskern, so nennt sich deine Mitte, lag es ebensowenig. Zwar fand ich diesen beim ersten Vorbeigehen sauber, modern und ein bisschen gewollt schick. Doch er wirkte fast genauso verlassen wie der Bahnhof. Und das schon lange, bevor Läden und Gaststätten virusbedingt geschlossen werden mussten.

 

Dennoch war es offensichtlich so gewollt, dass wir uns begegneten.

 

Ich war – endlich – zur rechten Zeit am rechten Ort. Als ich verschiedene Wohnungen in verschiedenen deiner Ortsteile anschaute wurde mir nach und nach klar, was du alles zu bieten hast: Friseursalons und Apotheken an vielen Ecken, Ärztehäuser, drei S-Bahn-Stationen, Spielplätze, Kinderbetreuungseinrichtungen, Schulen, Supermärkte, kleine Boutiquen mit schönen Frauennamen (manche sogar aus Märchen), familiäre Geschäfte, einen Baumarkt, Wirtschaften, ein Kino, Kirchen, Banken, Wochenmarkt, Kletterhalle und sogar eine Sternwarte und einen Flugplatz. Vieles davon und noch einiges anderes, das gebe ich zu, habe ich erst viel später entdeckt.

 

Als ich endlich meinen Platz gefunden hatte, der zum Wohnen und Arbeiten, also zum Leben, bestens geeignet war, genoss ich es, alles zu Fuß oder per Fahrrad erreichen zu können. Auch wenn es noch eine Weile dauerte, bis ich immer seltener in die große Stadt nach München fuhr, war mir klar: Es ist alles da, was ich brauche. Und was nicht da ist, brauche ich nicht.

 

Dein fast weltstädtisches Rathaus, das direkt per Zebrastreifen mit der so genannten Fußgängerzone (manche bezeichnen sie weniger schmeichelhaft) verbunden ist, hat das Bild von dir nach einigen Jahren neu geprägt. Nicht nur der imposante Veranstaltungssaal, den ich meist mit einem halben Liter weniger Blut im Körper und einer Brotzeit im Magen verließ, sticht hervor. Auch die Bücherei ist präsenter, größer und schicker geworden.

 

So schaute ich dort noch viel lieber und häufiger vorbei, als schon vorher. Die Mitarbeiterinnen machten jeden Besuch zu einem kleinen Vergnügen und erfüllten meine teils exotischen aber stets relevanten Bücherwünsche immer mit einem Lächeln und ohne mit der Wimper zu zucken. Ich habe jedes Jahr bis zu 100 Bücher gelesen, während ich in Gilching lebte, und die meisten davon kamen aus der Gemeindebücherei.

 

Ausgestellt

 

Das Rathaus fungiert auch als Museum, in welchem ich – meist so zwischendrin – die Werke verschiedener Künstlerinnen und Künstler betrachtete und immer ein paar Postkarten mitnahm. Sogar bei einer Vernissage war ich dabei, denn: Ich war ein Ausstellungsobjekt. Besser gesagt: Ein Porträt von mir in Lebensgröße zusammen mit meiner in Worten formulierten Vorstellung von einer lebenswerten Zukunft wurden für ein paar Wochen präsentiert. Es war Teil einer Ausstellung eines Gilchinger Fotografen, der unterschiedliche Menschen porträtiert hat. Mich hat er zu Hause geknipst und hier wie dort hat er alles kreativ in Szene gesetzt.

 

Servus Gilching

 

Weniger als einen Steinwurf vom Rathaus entfernt verbrachte ich fast ebenso viel Zeit wie in der Bücherei. Im Eine-Welt-Basar der AWO haben viele meiner über-flüssigen Besitztümer eine vorübergehende und schlussendlich eine neue Heimat bei Menschen gefunden, die sie besser brauchen konnten als ich. Wo die zwei Dirndl, die ich nicht mehr ausfüllte und die nur einmal getragenen, dafür sündhaft teuren und sehr hohen Pumps jetzt wohl sind?

 

Ganz in der Nachbarschaft tauchte erst vor kurzem noch ein weiterer Lieblingsplatz von mir auf: Ein moderner Krämerladen, in dem es Unverpacktes gibt – sogar Schokolade. Bald werden von dort weitere Aktivitäten ausgehen, wie ich aus erster Quelle weiß, die allen in Gilching beim Ressourcen-Schonen helfen. Zusammen mit dem Marktplatz, wo sich mein Lieblingsfriseur befindet, war dies der Radius, den ich am häufigsten, meist donnerstags zu Wochenmarktzeiten, abradelte.

 

Gilching, lass mich ehrlich sein, im Laufe der Jahre hast du dich ziemlich verändert.

 

Du bist gewachsen, bist internationaler geworden, jünger und älter. Ich musste dich mit immer mehr Menschen teilen, die dich offensichtlich genauso attraktiv finden, wie ich. Sie kamen aus immer mehr Ecken des Landes und des Planeten. Mit ganz individuellen Schicksalen und abenteuerlichen Reisegeschichten.

 

Die Anzahl der Sprachen, die man in Gilching hören kann, lassen mich oft an deine Vorgängerinnen denken – große Metropolen mit internationalem Flair. Der immer häufiger werdende Ton des Martinshorns erinnert an manchen Tagen auch sehr stark an eine Großstadt.

 

Überhaupt: Warum kommst du nicht mehr so gut zur Ruhe? Der Lautstärkepegel, hauptsächlich verursacht durch motorisierte Fortbewegungsmittel auf deinen vielbefahrenen Straßen, der Autobahn und der Luft, ließ sich mit der Zeit kaum noch nach unten drehen. Hatten zu Beginn noch zahlreiche Bäume (auch direkt vor meinem Balkon) die Luft gereinigt und den Lärm abgeschirmt, wurde beides zunehmend immer ungefilterter. Klar, man kann sich an alles gewöhnen – aber will man das?

 

Übrigens: Welchen Zweck hat die Umfahrung dort an deinem westlichen Rand, die nach jahrzehntelangem Planen endlich gebaut wurde?

 

Ich hatte mich echt gefreut, dass es ein bisschen intimer und entspannter werden würde für uns zwei – weniger Durchgangsverkehr und so. Leider hat das nicht geklappt. Wird das noch was?

 

Wie gut, dass wenigstens der Bannwald, der ja gar nicht zu dir gehört, noch ein Wald bleiben darf und sich gegen die Betonwüsten der Gewerbegebiete rundherum behauptet (nicht zuletzt auch dank vieler Engagierter). Dieses Erholungsgebiet jenseits der baumfreien Zonen rettete mir oft die Laune und hielt bestimmt so manchen Infekt von mir fern. Besonders diese eine Lichtung hat es mir angetan, die zu jeder Tageszeit anders aussieht, riecht und klingt.

 

Ein weiterer Naherholungsort war mein anteiliger Sonnenacker, gleich bei der Kletterhalle. Trotz der steinigen Erde, die es hier auf deinem Gebiet zu Hauf gibt, gingen die meisten Samen auf und auch das Gepflanzte gedieh. Es freuten sich Familie, Freunde und Nachbarinnen mit mir über die große Ernte. Das war ein Stückchen Urlaub mit weniger als fünf Minuten Anreise. Wer hat das schon? Die überlaufenen Seen, die sich um dich herum tummeln, konnten so irgendwann nicht mehr mithalten – bei mir.

 

Für Körper, Geist und Seele war in meinem Fall wirklich gesorgt hier in der einst keltischen Siedlung mit der römischen Straße und der berühmten Glocke. Ich war in zwei Minuten im Pilates-Studio und in fünf Minuten im Probesaal des Gospel Chors – ohne Auto.

 

Die Joyful Voices nahmen mich in ihren Reihen auf, und ich spürte mit Körper, Geist und Seele, wie sehr ich das regelmäßige Singen vermisst hatte. Als wir virusbedingt nicht mehr gemeinsam singen konnten, klangen montags aus diversen Wohn- oder Arbeitszimmern groovige Töne, die sich einmal sogar in einem Video zusammen fanden.

 

Liebes Gilching, du warst der perfekte Ort, um meinen Kokon zu spinnen und sicher aufzuhängen.

 

Ich knüpfte mich ein, ohne dass es zu einsam wurde und konnte so, als im Jahr 2020 plötzlich alle dazu gezwungen waren, mit sich selbst in Klausur zu gehen, ganz einfach in die Phase der Ent-Wicklung rutschen. Alles, was ich dazu brauchte, hatte ich vorher erledigt. Alte Wunden waren verheilt, auch dank der Menschen, die mir dabei geholfen haben. Die meisten von ihnen fand ich in Gilching, ein paar in nicht allzu ferner Umgebung. Es zeigte sich, dass meine innere Stimme, damals am Bahnhof von Argelsried, Recht behalten hatte. Das war der Platz, den ich brauchte. Und umgekehrt.

 

So kam es, dass ich im Juli 2020 als Schmetterling den Kokon verließ und von da an viel leichter durchs Leben flatterte. Meine Farben waren so frisch wie die eines Regenbogens und der Ballast wurde immer weniger. Die Gabriele, die sich lange Zeit versteckt hatte, nahm selbstbewusst den Platz der kleinen Gaby ein. Und ich tat es endlich: Regelmäßig Videobotschaften aufnehmen – und das Buch schreiben, das 20 Jahre darauf gewartet hatte. Dieses Buch wird immer mit dir verbunden bleiben, liebes Gilching.

 

Jetzt ist es Zeit, neue Seiten aufzuschlagen und davon zu fliegen.

 

Ich lasse, neben all den Dingen, die ich im Eine-Welt-Basar oder in meiner Zu-Verschenken-Kiste am Straßenrand gespendet und verschenkt habe, neben den biologischen Resten, die auf meinem Acker anfielen und die wieder zu Gilchinger Erde wurden und neben ein paar Handvoll Blumensamen, die ich großzügig an ein paar Stellen im Bannwald verteilt habe, viele liebe Menschen zurück, die mir hier ein Gefühl der Zugehörigkeit gegeben haben:

 

All diejenigen, die nebenan wohnten.

Große und kleine Menschen, die nach ihrer Flucht eine neue Heimat hier gefunden haben und Menschen, die ihnen dabei geholfen und sie unterstützt haben.

Soprane, Altistinnen, Tenöre und Bässe – samt Ton- und Taktangeber.

Helfende und heilende Hände für Notfälle, für Verspannungen, bei Krankheiten und für die Seele.

Kreative, Engagierte und politisch Aktive.

Gärtner und Ackerbäuerinnen.

Kurzum: Alle, die in ihrer Eigen-Art zu Freundinnen und Freunden geworden sind.

Und alle Gilchinger Originale oder Zugereiste, denen ich in all der Zeit in Läden, in Praxen, bei Firmen, in Veranstaltungsräumen, an Treffpunkten, in Wald, Feld und Wiese – oder einfach online –  und auf der Straße begegnet bin.

 

Euch allen danke ich von Herzen, dass ihr eine Weile meinen Weg begleitet habt, mit mir gefeiert, diskutiert, philosophiert, ausprobiert, gesungen, gerungen, gebangt, mir handfest geholfen (vor allem, aber nicht nur, in der heißen Phase des Umzugs) und euch mit mir ausgetauscht habt. Kurzum: mir – wenn auch erst nach einer recht langen Weile – das Gefühl gegeben habt, dass ich in Gilching daheim war.

 

Es ist mir eine Ehre, euch zu kennen und es war stets ein Vergnügen, euch zu begegnen. Ich wünsche euch allen weiterhin viel Freude, Glück und Wohlbefinden in Gilching, um Gilching und um Gilching herum.

 

Für euch alle, für Neugierige und für dich, liebes Gilching, habe ich ein Abschiedsvideo aufgenommen. Nicht unbedingt mit technischer Finesse, aber mit viel Herz und Leidenschaft und sogar mit Musik und Gesang (meinem):

 

 

 

 

 

Servus, Gilching! Servus, euch allen. Pfiat euch.

 

Eure

Gabriele

Gabriele Feile fliegt und nimmt von dort oben große Zusammenhänge intensiv wahr. Sie sagt, was zu sagen ist und was gehört gehört.

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