Welche „Bomben“ schlummern in dir?
Am 2. Juni 2025 wurde in Köln sondiert. Nein, es ging nicht um eine mögliche Regierungskoalition, sondern um eine Baustelle im recht zentral gelegenen Stadtteil Deutz. Konkret handelte es sich um Straßenbauarbeiten an der Deutzer Brücke, die über den Rhein führt.
Beim Sondieren fanden die Profis drei mächtige amerikanische Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg. Diese konnten nur vor Ort entschärft werden.
Zieht man die Erfahrung der jüngsten Vergangenheit mit deutschen Großbaustellen heran, könnte man davon ausgehen, dass das Unterfangen sich ziehen würde. Doch trotz deutscher Gründlichkeit und Bürokratie ist es nur zwei Tage später so weit.
Folgendes passiert: Rund 20.500 Menschen, die im Umkreis von einem Kilometer zur Fundstelle wohnen, werden evakuiert. Plus: eine Vielzahl von Beschäftigten in Unternehmen wie RTL, HDI-Versicherung, LVR, Patientinnen und Patienten in einem Krankenhaus, die Bewohnerinnen und Bewohner von zwei Seniorenheimen, Kinder in neun Schulen und in noch mehr Kitas.
Betroffen sind auch Messe, LANXESS arena, Musical Dome und Philharmonie, viele Museen, 58 Hotels, zahlreiche Gaststätten und nicht zuletzt der Bahnhof Köln Messe/Deutz und einige Straßenbahnhaltestellen.
Romantik ade: 15 Paare wollen just an diesem Tag im historischen Rathaus von Köln heiraten. Um den Plan nicht aufzugeben, bleibt ihnen nur die Alternative, in einem vielleicht weniger schmucken Bezirksrathaus den Bund der Ehe zu schließen. Immerhin haben sie so noch lange etwas zu erzählen.
Ausnahmezustand: Alles still in Köln
Innerhalb von kürzester Zeit wird alles getan, um Betroffene menschenwürdig und mit ausreichendem Abstand in Sicherheit zu bringen. Das ist ein Mammut-Akt in Bezug auf Kommunikation, Organisation und Logistik, an dem unzählige Menschen beteiligt sind. Es ist also auch in deutschen Rathäusern möglich, schnelle Entscheidungen zu treffen und zu handeln.
Das Ergebnis: Im evakuierten Bereich herrscht an besagtem Tag absolute Ruhe, niemand ist zu sehen.
Nur die Männer und Frauen des Kampfmittelbeseitigungsdienstes sind vor Ort und erledigen ihren gefährlichen Job. Erfolgreich! Die Blindgänger werden entschärft und der gewohnte Alltag kehrt schnell wieder ein. Bis die nächste Bombe gefunden wird.
Die unsichtbare Gefahr im Boden
In deutschen Großstädten und Ballungsgebieten, und auch in unseren Nachbarstaaten liegen eine unvorstellbare Menge an Blindgängern aus beiden Weltkriegen unter der Erdoberfläche.
Allein in Deutschland geht man von bis zu 100.000 Tonnen Munition und Bomben im Boden aus.
In ehemaligen und aktuellen Kriegsgebieten auf dem Planeten sieht es nicht anders aus: Minen, Streubomben, Sprengsätze – uferlos kann man das nennen.
Je mehr gebaut, also gegraben wird, desto mehr kommt zutage. Es ist unwahrscheinlich, dass Profis zur Kampfmittelräumung irgendwann arbeitslos werden. Es ist ein Beruf mit Zukunft, auch wenn er auf der Vergangenheit beruht.
Die unsichtbaren Bomben in uns
Jedes Mal, wenn ich von einer Bombenentschärfung höre, bin ich erleichtert, wenn alles gutgeht. Ich bin dankbar, dass es mutige Frauen und Männer gibt, die sich dieser gefährlichen Aufgabe stellen.
In letzter Zeit wird mir dabei immer klarer, dass wir, die Generation der Kriegsenkel, denselben Mut auch brauchen, um die Bomben in uns selbst zu entschärfen. Auch dort schlummern Kriegsaltlasten, die bei unsachgemäßer Behandlung explodieren können.
Was ich meine, sind all die Erfahrungen und Traumata, die Kriege bei unseren Vorfahren ausgelöst haben.
Dazu gehören: eigene Kampferfahrung gepaart mit Schuld, Kriegsverletzungen, Kriegsgefangenschaft, Zwangsarbeit, Verlust von nahen Angehörigen an der Front, durch Bomben, in KZs, durch Hinrichtung, Verlust des eigenen Hab und Guts und des Daches über dem Kopf, vermisste Ehemänner oder Väter, Flucht, Vertreibung, Hunger, Vergewaltigung, Scham und noch viel mehr.
Diese traumatisierenden Erfahrungen wurden gut verbuddelt und tief vergraben – auf dass sie niemals an die Oberfläche gelangen.
Einige Jahre, Jahrzehnte gar, ging das gut. Das Ignorieren des Erlebten hat die Menschen funktionieren lassen.
In Deutschland gelang die Ablenkung durch Fleiß und harte Arbeit – und durch das, was bis heute als Wirtschaftswunder bezeichnet wird. Der erstmalige Gewinn der Fußball-WM der Männer 1954 war das Tüpfelchen auf dem i – ein weiteres Wunder!
Deutschland war wieder wer, und wurde aufgrund seiner Leistung anerkannt – und nicht ausgeschlossen wegen zweier begonnener Weltkriege. Wir waren Teil der Staatengemeinschaft und gewannen mehr und mehr Vertrauen und Macht zurück.
Für alle Überlebenden der Kriege war das eine gute Nachricht: Es läuft alles so gut, wir müssen nicht mehr über die dunklen Zeiten nachdenken.
Ja, so könnte das noch viele Generationen weitergehen. Nur leider tauchen immer häufiger Beweise für versenkte Traumata auf.
Wie jüngst in Köln heißt das für Kriegsenkel und deren Kinder: hinschauen, entscheiden und mit dem notwendigen Abstand handeln.
Transgenerationale Traumata
Wir Kriegsenkel und -urenkelinnen werden mit Themen konfrontiert, die mit unserem eigenen Leben nichts zu tun haben. Und dennoch werden wir davon beeinträchtigt. Manche von uns sondieren, andere graben sogar danach.
Weil andere beides nicht tun, können wir davon ausgehen, dass die Anzahl der nicht geborgenen Traumata in Menschen mindestens genauso hoch ist wie die der noch nicht entschärften Sprengsätze im Boden von Europa. Eher sogar höher!
Um innere Bomben zu entschärfen braucht es erfahrene Profis oder den Mut, es selbst zu tun. Ansonsten trifft es die nächste Generation umso heftiger. Denn alles, was nicht gelöst wird, kann auf die Nachkommen übergehen. Das hat die Forschung im Bereich Epigenetik herausgefunden.
Entscheiden wir uns fürs Graben, begreifen wir, dass das, was uns das Leben schwermacht, in vielen Fällen von den Erlebnissen unserer Vorfahren herrührt. Wir selbst erlebten keinen Krieg und litten nicht unter den Entbehrungen und Erlebnissen. Doch wir leiden unter den Folgen, unseren Genen sei Dank!
Viele (wenn auch nicht alle) der Themen, die in Therapien oder Aufarbeitungen jeglicher Art zutage treten, können auf sogenannte transgenerationale Traumata zurückgeführt werden. Dazu gehören nicht nur Kriegserfahrungen, doch diese sind in Europa mit dominierend – einfach wegen unserer Geschichte.
Das behutsame Entschärfen bedeutet für eine Weile einen Bruch in unserer geliebten Routine. Aber langfristig heißt es: Wir sind sicher und frei. Das eigene Leben wird unbeschwerter und von der Vergangenheit entlastet. Und: Die uns nachfolgenden Generationen müssen nicht auch noch darunter leiden.
Entschärfen ist ein Gewinn für alle!
Was ist deine Perspektive auf dieses Thema?
Füge sie gerne in den Kommentaren unten hinzu.
Vielen Dank.

In meinem Buch „Schmetterlinge fallen nicht vom Himmel“ habe ich das Thema ebenfalls angesprochen. Ich habe es als Erbe bezeichnet, das wir lieber ablehnen würden.
Es gibt ein paar gute Bücher, speziell zum Thema „Kriegsenkel“: z. B. von Sabine Bode: Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation und von Matthias Lore: Das Erbe der Kriegsenkel. Was das Schweigen der Eltern mit uns macht.
Mit der Autorin und Künstlerin Imke Rosiejka habe ich außerdem in einem Video über transgenerationale Traumata gesprochen. Sie hat erzählt, wie sich diese konkret auf ihr Leben ausgewirkt haben – bis sie begriffen hat, dass es um Ängste ihrer Vorfahren ging.
Das Video mit dem Titel: Was wir erben, ohne es zu wollen, gibt es auf dem Kanal der #schmetterlingsfrequenz hier: https://youtu.be/2WXIWqCTCXA?si=9umXCTh1ppJll6ON