Viel gepriesener Fortschritt

Wie gut, dass wir in so modernen Zeiten leben! Immer mehr Maschinen nehmen uns die Arbeit ab, damit wir entspannen können.

Die Digitalisierung macht noch mehr möglich:

Wir können uns minütlich im Internet über das Wetter informieren und erst bei einem Gang vor die Tür feststellen, dass sich eine App irren kann.

Wenn wir auf ein Paket warten, können wir per Smartphone dem Fahrer auf der Spur bleiben und wissen genau, wann er an unserer Tür klingeln wird. Das konnte früher nur der Geheimdienst.

Dank smartem Wohnen können wir unbesorgt verreisen, denn Beleuchtung und Rollläden simulieren während unserer unbekümmerten Abwesenheit die routinierte Anwesenheit. Dafür mussten wir früher eine Nachbarin engagieren.

Mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) wird es bald nicht mehr nötig sein, für unseren Broterwerb zu arbeiten. Denn diese stets leistungsfähigen, gesunden und ohne menschliche Bedürfnisse ausgestatteten Kreaturen können alles besser als wir. Und das 24/7.

In die Hände spucken und das Bruttosozialprodukt steigern

 

Bis geklärt ist, wer für die Arbeit der KI wie ausgiebig entlohnt wird und wie wir alle dennoch genügend Geld haben, um das auf die Ewigkeit angelegte Wirtschaftswachstum am Laufen zu halten, gibt es viel zu tun. Packen wir es an!

Denn trotz des enormen technischen Fortschritts haben wir nicht wirklich mehr Zeit für den Müßiggang als früher.

Im Gegensatz zu unseren Vorfahren, die ihre Einkäufe zusammen mit ein paar freundlichen Worten noch über die Ladentheke gereicht bekommen haben, müssen wir sperrige Wagen durch endlose Gänge schieben und uns mühsam zusammensuchen, was wir brauchen. Wir laden alles auf ein automatisch laufendes Band und nehmen es am anderen Ende hektisch wieder in Besitz.

Zunehmend werden wir dazu trainiert, die Einkäufe selbst zu scannen und zu bezahlen – ganz ohne menschlichen Kontakt, und am liebsten bargeldlos.

Apropos Bargeld: In Banken ist es schon lange nicht mehr üblich, Geld von einem schmucken Kassierer mit Krawatte vorgezählt zu bekommen. Und wenn, dann nur gegen eine hohe Gebühr. Am liebsten sehen es die Banken, wenn wir gar nicht mehr auftauchen, sondern Überweisungen, Geldanlagen und Kreditanfragen vom „Homeoffice“ aus erledigen.

Versicherungen zwingen uns regelrecht dazu, unsere Belege selbst zu scannen und sie in ein System hochzuladen, damit sie erstattet werden können.

Die Bahn stellt maximal noch eine Videoverbindung zu jemandem in einer fernen Stadt her, wenn wir an kleinen Bahnhöfen eine Fahrkarte oder – Gott bewahre – eine Auskunft haben wollen.

Reisen buchen wir, wegen der scheinbar günstigen Preise, selbst im Internet. Einchecken? Geht online. Auschecken? Auch. Frühstück: Gibt es am Buffet, bitte bedienen Sie sich!

Weißt du, worauf ich hinaus will? Wir werden ziemlich ausgenutzt!

 

All die digitalen Lösungen, die als Fortschritt gelten, führen mehr und mehr dazu, dass wir Arbeiten übernehmen, die früher gut geschultes Personal für uns erledigt hat.

Angestellte in Banken, Reisebüros, Versicherungsagenturen, an Schaltern, in Restaurants, in Praxen, bei Stromversorgern usw. waren dafür da, uns zu beraten, unsere Buchungen zu erledigen, Fragen zu beantworten und ja: uns wie Menschen zu behandeln. Sie boten Dienstleistungen an.

Das mag nicht immer freundlich gewesen sein, aber immerhin gab es ein atmendes Gegenüber, das die menschliche Körpersprache beherrschte und Humor verstand.

Heute müssen wir uns mit allen möglichen Dingen selbst auskennen, damit unser Leben funktioniert. Wir gewinnen also durch all den Fortschritt nicht unbedingt Zeit, sondern wir verbringen viel Zeit damit, anstelle von Anderen zu arbeiten.

Nützen tut das den Unternehmen, die damit ihre Kosten drücken und mehr Geld mit ihrer Kundschaft (also uns) verdienen. So verkünden sie regelmäßig dicke Wachstumsraten, während die Personaldecke immer dünner wird.

Wirklich schade, dass deutsche Ämter all das nicht draufhaben! Sonst hätten wir, die wir Steuern zahlen, wenigstens was davon. Und wir könnten dem Finanzminister dabei helfen, die Schuldenbremse einzuhalten – sozialverträglich. Die dann überflüssigen Staatsbediensteten könnten an all den Stellen nützlich sein, wo über einen Mangel an Fachkräften geklagt wird. Das wäre doch mal ein Fortschritt!

Was wir zum Leben brauchen!

 

Es gibt allerdings eine spezielle Industrie, die es vorzüglich versteht, uns jede Menge Arbeit abzunehmen. Sie versorgt uns mit den Dingen, die wir täglich brauchen. Und schafft es oft, uns nicht nur süchtig, sondern auch krank zu machen.

Ich spreche von der Lebensmittelindustrie. Jenem Zweig der Wirtschaft, der dafür da ist, uns mit Nahrung zu versorgen. Und zwar hauptsächlich mit verarbeiteter Nahrung, nicht mit frischen Produkten wie Obst, Gemüse oder Fleisch.

Wir lassen zu, dass das, was uns am Leben hält, in Fabrikhallen produziert und abgefüllt wird.

Wir akzeptieren, dass in Laboren Geschmacksstoffe hergestellt werden, damit es Erdbeerjoghurts zu kaufen gibt, die niemals auch nur eine Erdbeere zu Gesicht bekommen haben!

Wir vertrauen blind darauf, dass die Produzenten uns nur das verkaufen, was uns guttut.

Günstige Preise finden wir großartig, wie diese zustande kommen, interessiert uns nicht. Hauptsache, es schmeckt!

 

Lieber Fortschritt: Ist das noch Eis?

 

Mir hat vor kurzem Sebastian Lege im ZDF den Geschmack verdorben. In seiner kleinen Fabrik baut er das nach, was die Industrie in die Verpackungen füllt – für Supermärkte und für die Gastronomie – schlussendlich also für Menschen, die essen. Ob Currywurst oder Eis – alles gibt es zum bequemen Anrühren und mit reichlich E-Inhaltsstoffen. Das bringt der Fortschritt halt so mit sich.

Seit ich die Folge mit dem Eis gesehen habe, fühlt sich jeder Gang zur Eisdiele meines bisherigen Vertrauens an, wie der Weg nach Golgatha. „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“, gebe ich zu.

Denn obwohl ich jetzt weiß, wie die vielen bunten und exotischen Sorten Eis entstehen, die so einen geschmeidigen Eindruck in der Theke hinterlassen, fällt es mir schwer, im Sommer auf Eis zu verzichten.

Lege rührte eine Mischung aus Zucker, gehärtetem Kokosfett und zahlreichen anderen weißen Pülverchen zusammen. Für den Geschmack gab er künstliches Aroma hinzu.

Die fertige Mischung braucht in der Gastronomie nur noch mit Wasser angerührt werden. Wer Milchspeiseeis anbieten will, muss eine bestimmte Menge Milch hinzufügen. Alles ab in die Eismaschine, in Edelstahlformen abfüllen und dekorieren – fertig ist das hausgemachte Eis!

Es ist tatsächlich so: Solange das Eis direkt vor Ort angerührt wird, darf es „hausgemacht“ oder „aus eigener Herstellung“ genannt werden!

Der Grund für diese Strategie ist klar wie Zitroneneis: Eis so herzustellen ist deutlich günstiger als die herkömmliche Eisproduktion mit Milch, Ei, Sahne, Obst, Nüssen und weiteren Lebensmitteln. Es spart Arbeitszeit und damit Arbeitskräfte – und die Gewinnmarge steigt.

Falls du nach einer lukrativen Geschäftsidee suchst, kann du mit einer Eisdiele fast nichts falsch machen!

 

PS: In der ZDF-Mediathek kannst du Sebastian Lege beim Eiscrememachen zuschauen (ab Minute 20:40).

Was ist deine Perspektive auf dieses Thema?

Füge sie gerne in den Kommentaren unten hinzu.

Vielen Dank.

Gabriele Feile

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