Ich hätte damals mutiger sein sollen
Vor bald 10 Jahren stand ich auf einer Bühne und kündigte einen Sprecher an. Er sprach in seinem Vortrag darüber, wie er Männer wieder zu echten Männern machen wollte.
Ich kannte ihn persönlich. Vielleicht war das der Grund, warum ich keine allzu kritischen Fragen stellte, als der Vortrag zu Ende war.
Er erzählte zum Beispiel davon, dass er beim Tanzen mit Frauen sofort erkenne, wer eine Karrierefrau oder Single sei. Denn diese Frauen ließen sich, sehr zu seinem Missfallen, einfach nicht von ihm führen. Ein No-Go!
Ich hätte fragen sollen:
Wer hat denn bestimmt, dass Männer beim Tanzen führen müssen und dass Frauen geführt werden müssen? Können überhaupt alle Männer führen oder gar tanzen? Und was wäre schlimm daran, wenn Frauen führten?
Bei Let’s Dance kommt das schließlich ständig vor, wenn der zwar prominente aber ansonsten unbegabte Tanzpartner keine, aber auch gar keine Ahnung vom Tanzen hat.
Der besagte Redner erzählte von Männlichkeits-Ritualen, die er regelmäßig in Männergruppen durchführt. Das Ziel: Männer wieder in ihre Männlichkeit zu bringen. Was er dabei genau tat und worüber die Männer bei diesen Treffen sprachen, wollte er mir, als Frau, nicht verraten.
Er erklärte mir stattdessen die Ursache für die schwindende Männlichkeit: Jungs werden in erster Linie von Frauen erzogen, ob zu Hause, im Kindergarten oder in der Grundschule. Männliche Vorbilder fehlen quasi überall.
Auch hier hätte ich fragen sollen:
Woher kommt es, dass Väter keine Vorbilder für ihre Söhne sind? Wo sind sie denn, während die Jungs aufwachsen?
Oder: Warum gibt es in den Kindergärten und Grundschulen kaum männliches Fachpersonal?
Und: Wie kann es sein, dass trotz der scheinbar femininen Erziehung aus vielen Jungs „typische“ Männer werden, die am liebsten eine Frau wollen, die sich zu Hause um Kinder und Haushalt kümmert?
Es mag stimmen, dass auf kleine Jungs viel Weibliches einströmt, aber scheinbar werden sie dadurch nicht zu Feministen.
Ausnahmen gibt es: Barack Obama wuchs in einem Frauenhaushalt auf und hat es dennoch (oder deswegen) weit gebracht. Er hat sich schon früh öffentlich als Feminist bezeichnet. Denn er wolle natürlich, dass seine zwei Töchter und alle anderen Frauen dieselben Chancen haben, wie Männer. Dafür setze er sich ein, so seine Begründung.
Ihm glaube ich das aufs Wort. Es gibt einige Väter von Töchtern, die seinem Beispiel folgen und sogar öffentlich dazu stehen. Chapeau!
Was meinen Männer eigentlich, wenn sie ein „echter Mann“ sein wollen?
Haben sie Vorbilder wie ihren Vater als charismatischen aber strengen Patriarchen? Oder den lässigen Cowboy Old Shatterhand, der mit seinem besten Freund die Welt rettet? Wollen sie so stark sein wie Herkules und genau so viele Söhne zeugen? Oder sympathisieren sie mit dem Prinzen, der nach dem Töten des Drachens die Prinzessin heiraten darf?
Das Bild des verlässlichen Versorgers, der genügend Geld verdient, um eine Familie finanzieren zu können, ist jedenfalls in vielen, auch jungen, Köpfen noch vorhanden.
Es gibt nur wenige Männer, die damit umgehen können, dass ihre Frau mehr Geld verdient als sie. Anstatt das als Fakt anzuerkennen und die Familie entsprechend zu organisieren (zum Beispiel, indem Männer Elternzeit und Care-Arbeit übernehmen oder zumindest in Teilzeit arbeiten), arbeiten viele Männer lieber daran, Karriere zu machen und ihre Frau doch zu übertrumpfen.
Und die Frauen? Wuppen neben einem anspruchsvollen Job auch noch Kinder und Haushalt. Es ist zum Verzweifeln. Besonders, weil auch viele Frauen bei dem Spiel bereitwillig mitspielen.
It’s the Patriarchat, stupid!
In meiner letzten Kolumne habe ich die Frauen ins Visier genommen und uns als mitschuldig verurteilt. Wir sind nämlich ebenfalls verantwortlich dafür, dass sich das Patriarchat seit mehr als 10.000 Jahren erfolgreich hält. Denn auch wir glorifizieren die alte Rollenverteilung, stehen auf Helden, die uns retten (oder uns wenigstens die Tür aufhalten), und glauben immer noch, ein Mann sei eine sichere Altersvorsorge.
Nicht alle Frauen, natürlich, aber die Klischees bestätigen sich immer noch weitgehend. Dabei haben Frauen großen Einfluss darauf, was aus ihren Söhnen für Männer werden.
Indem sie sich selbst nicht für die Familie (und die Männer) aufopfern und stattdessen auf eine partnerschaftliche Verteilung der Verantwortung und der Aufgaben bestehen, bildet sich in jungen Männern ein alternatives Frauenbild. Eines, das sie hoffentlich davon abhält, (ihre) Frauen zu unterdrücken, zu belästigen, zu schlagen, zu vergewaltigen, umzubringen.
Der Heimweg ist nicht das größte Risiko
Ich hatte vor kurzem ein paar unruhige Tage, weil ich wusste, dass ich nach der Weihnachtsfeier nachts alleine zu Fuß nach Hause gehen musste. Dabei stellte ich mir vor, wie ich in der dunklen Unterführung überfallen oder am Bahnhof von einer Gruppe Männern bedrängt werden würde.
Sicherheitshalber legte ich mir ein paar Strategien fest (Schlüssel in der Faust halten, den Weg an der Polizei vorbei wählen, die Nummer des Heimweg-Telefons abspeichern). All das aus reiner Routine, so wie es uns Frauen seit Jahrzehnten eingebläut wird.
All das wäre nicht nötig gewesen. Die Unterführung war hell erleuchtet, am Kleinstadtbahnhof warteten Busse auf das Partyvolk und eine Kollegin begleitete mich ein Stück. Es gab keinen Moment, der irgendwie gefährlich war, und ich kam gut und sicher daheim an.
Hätte ich vorher Christian Springer in der Sendung „Schlachthof“ (ab Minute 39:30) zugehört, als er von häuslicher Gewalt redete, wäre ich vermutlich entspannter gewesen. Die harte Wahrheit: Es ist für Frauen tendenziell gefährlicher, mit einem Mann zusammenzuleben, als nachts alleine nach Hause zu gehen.
Denn die meisten Gewaltverbrechen, die Männer an Frauen verüben, finden im familiären oder freundschaftlichen Umfeld statt. Und dabei ist die immens hohe Dunkelziffer noch nicht mal berücksichtigt.
Gewalttätige Männer müssen sich schämen, nicht betroffene Frauen
Ein Mann, der, wie in Frankreich geschehen, seine Frau betäubt und an andere Männer verleiht, die sie unzählige Male vergewaltigen, ist nicht männlich. Er ist eine Bestie.
Gisèle Pelicot ist es zu verdanken, dass, wie sie sagte, die Scham die Seite gewechselt hat. Sie hat sich der Öffentlichkeit als starke Frau gezeigt, nicht als schwaches Opfer. Der Täter, Dominique Pelicot, muss 20 Jahre ins Gefängnis.
Die meisten Männer, die ich kenne, reagieren sofort ablehnend auf solche Themen: „Aber nicht alle Männer sind so!“, beteuern sie.
Ja, das stimmt, nicht alle Männer üben Gewalt gegen Frauen (oder Kinder) aus. Sie finden andere Wege, um ihre Gefühle und Bedürfnisse zu unterdrücken und ein echter Mann zu sein: viel arbeiten, exzessiv Sport treiben, Sex, Statussymbole, Geld, Alkohol, Nikotin und andere Süchte.
Was wollt ihr wirklich, wirklich, Männer?
Wollt ihr wirklich ein Leben, das sich nur darum dreht, eure scheinbar angestammte männliche Rolle zu erfüllen?
Ist euer Leben nur dann wertvoll, wenn ihr viel Geld verdient habt, ein Haus gebaut und mindestens einen Sohn gezeugt habt?
Wie würde es sich anfühlen, die Last des starken Versorgers und Problemlösers von euren Schultern zu nehmen?
Würdet ihr euch trauen, ein Sabbatical zu machen oder eure Arbeitszeit zu reduzieren?
Würdet ihr den gut bezahlten (aber verhassten) Job aufgeben, wenn ihr dafür Zeit für eure persönlichen Bedürfnisse und Ziele erhalten würdet?
Würdet ihr eure Zeit nutzen, um euch selbst besser kennenzulernen und euren seelischen Ballast loszuwerden?
Würdet ihr unterdrückte Gefühle und Bedürfnisse wahrnehmen wollen und ihnen Raum geben?
Würdet ihr euch um euch selbst kümmern und dafür sorgen, gesund zu bleiben, um ultimativ länger zu leben?
Was wollt ihr wirklich, wirklich, um ein erfülltes Leben zu leben?
Was wir alle brauchen
Die Herausforderungen in der Welt sind riesengroß. So groß, dass wir sie nur gemeinsam lösen können. Nicht die Männer müssen das tun, sondern wir alle.
Der Geschlechterkampf muss einer Kooperation weichen, um allen nachfolgenden Generationen ein lebenswertes Leben zu ermöglichen.
Was wir brauchen, sind mehr starke Männer, die ihre schwachen, gewaltbereiten und frauenhassenden Geschlechtsgenossen aufs Schärfste verurteilen.
Die erkennen, dass hier ein systemisches Problem gelöst werden muss.
Die bereit sind, sich selbst als Teil der Lösung zu sehen.
Die in Männerrunden den „Spielverderber“ geben, wenn sie sexistische Witze, frauenverachtendes Gehabe oder rassistisches Verhalten ablehnen.
Die über Gefühle reden – mit anderen Männern und mit Frauen.
Die sich schwach zeigen und sich ihrer Tränen nicht schämen – und damit stark sind.
Die ihrem Chef die Stirn bieten, wenn er sie auslacht bei ihrem Antrag auf Elternzeit oder wenn sie die kranken Kinder versorgen müssen.
Die Partei ergreifen für Frauen – ihre Partnerinnen, Töchter, Mütter, Schwestern, Nichten etc.
Die zugeben können, dass sie etwas nicht wissen oder einen Fehler gemacht haben.
Die weibliche Ansichten zu mindestens 50 % berücksichtigen, bevor sie Entscheidungen treffen.
Die Parteien wählen, die Frauen als gleichberechtigt ansehen und sie so behandeln.
Die sich auch von Frauen führen lassen – nicht nur beim Tanzen.
PS: Was passiert, wenn wir uns nicht endlich gemeinsam um die Jungs und Männer kümmern, stellt Maren Kroymann in diesem Sketch gewohnt zutreffend dar.