Klassentreffen mit zwei T
Das war damals ziemlich peinlich: Zum Klassentreffen bin ich einst in einem gemieteten Audi TT aus München in meine Heimat gereist. Ich hatte mir ausgemalt, wie ich mit offenem Verdeck vor der Schule vorfahre und alle beeindruckt sind.
Die Aktion hätte ich mir sparen können – und den Mietpreis auch: Es hat geregnet, vor der Schule gab es keinen Parkplatz und so gut wie niemand hat mich in dem Auto gesehen!
Was ich hervorrufen wollte, war: Bewunderung und Neid. Und warum das alles? Weil ich dachte, ich sei nicht genug! Mein Selbstwertgefühl war ausgesprochen niedrig, vielleicht weil ich ein Jahr vorher meine einst vielversprechende Bankkarriere beendet hatte.
Selbstsicherheit, die strahlte ich dennoch aus. Das konnte ich immer schon, nach dem Motto: Fake it till you make it!
Jedenfalls haben Selbstsicherheit und Selbstwert nicht wirklich was miteinander zu tun. Was hiermit bewiesen ist.
Jetzt, bald 25 Jahre später, kann ich nur den Kopf schütteln über so viel Unreife. Zum Glück habe ich vor kurzem erfahren, dass das Selbstwertgefühl, also das Ausmaß, wie wir uns selbst wertschätzen, im Laufe des Lebens stärker wird.
In der Pubertät bleibt es stabil, dann steigt es bis etwa zum 70. Lebensjahr. Ab dann nimmt es sehr langsam ab. Und erst, wenn wir 90 sind, beginnen wir wieder zu zweifeln. Das zu erfahren, hat mich mit meinem ungestümen, jüngeren Ich versöhnt.
Schuld ist die Erziehung
Schaue ich mir junge Menschen heute an, kann ich sehen, wie sie kämpfen: für Anerkennung, fürs Gemochtwerden, für ein außergewöhnliches Leben. Und ich kann sie verstehen, das gehört wohl irgendwie dazu.
Dennoch ist der Druck heute ungleich höher als vor einigen Jahrzehnten. So hoch, dass psychische Probleme schon ab dem Grundschulalter auftreten. Mich macht das traurig und betroffen.
Kürzlich sagte eine kluge Frau sinngemäß und treffend:
„Heutige Eltern glauben, ihre Kinder kommen schneller ans Ziel, wenn sie schon im Kindergarten Fremdsprachen und Physik lernen. Doch was ist überhaupt das Ziel?“
Das Ziel scheint, zumindest in westlichen Industrienationen, nach wie vor zu sein: Sei erfolgreicher als die Anderen! Bessere Noten, höherer Abschluss, besserer Job, mehr Geld, mehr Prestige.
Wenn wir jetzt wissen, dass unser Selbstwert zu 60 % von unserer Erziehung und dem Aufwachsen beeinflusst wird, ist das ein kritischer Punkt. (Die anderen 40 % kommen übrigens von den Genen.)
Hast du was, dann bist du was!
Weil sich Selbstwert so schlecht messen lässt, haben wir ganz eigene Maßeinheiten dafür erfunden: reich, schön, berühmt.
Und irgendwann dachte sich wohl jemand: Weil Geld sowieso die Welt regiert, nehmen wir es doch einfach auch dafür her, Menschen zu bewerten. Je mehr jemand verdient, desto höher ist dessen Wert, so der Glaube. Autsch!
Blöd nur, dass so Jobs wie Investmentbanker, Anwältin, Ingenieurin und Profifußballer quasi als wertvoller eingeschätzt werden als Altenpfleger, Erzieherin, Friseur und Bäckerin.
Alles, was direkt und ganz nah (manchmal hautnah) den Menschen und ihren Bedürfnissen hilft, wird traditionell schlechter bezahlt als alles, was die Reichen noch reicher, die Schönen noch schöner und die Berühmten noch berühmter macht.
Wir finden das zwar alle ungerecht, aber solange wir selbst uns näher an der ersten Gruppe fühlen, passt das schon. Dann ist es auch leichter, diejenigen abzuwerten, die scheinbar nicht genug oder nichts leisten.
Was nichts kostet, ist nichts wert!
Folgt man diesem Prinzip, würde das bedeuten, dass Kinder, Alte, Menschen mit Behinderung oder Kranke keinen Wert hätten!
Und auch Menschen, die für einen Gotteslohn (also für nichts, außer das eigene Seelenheil) arbeiten, wären nach diesem Verständnis nichts wert. Oder zumindest wäre ihre Arbeit nichts wert, denn sie leisten ja nichts (sprich: Das Bruttosozialprodukt steigt nicht durch ehrenamtliche oder Care-Arbeit).
Menschen wie Jesus, Mutter Teresa, Gandhi, Franz von Assisi und viele weitere hätten dann ein Leben gelebt, das nutz- und wertlos war, weil sie ja nichts geleistet (also verdient) haben.
Ich weigere mich, das zu glauben und zu unterstützen!
Wie viel Trinkgeld ist passend?
Trinkgeld ist eine Form der Wertschätzung und sagt einiges darüber aus, wie Gebende und Empfangende ihren Selbstwert einschätzen.
Eine Hotelmitarbeiterin erzählte in einem Magazin, dass sie eine kleine und feine Abendveranstaltung für einen Kunden ausgerichtet haben, die insgesamt 1000 Euro gekostet hat. Das ganze Team hat sich richtig reingehängt und alle Wünsche erfüllt. Nur, um am Ende zusammen ganze 5 Euro Trinkgeld zu bekommen. Die Enttäuschung war groß!
Eine andere Geschichte, die ich gehört habe, spielte auf dem Oktoberfest in München. Ein Geschäftsmann bezahlte seine Rechnung, die 5000 Euro ausmachte und legte großzügige 500 Euro als Trinkgeld drauf.
Das war dem Kellner nicht genug, der daraufhin den Oberkellner einbezog und mit ihm zusammen auf 1500 Euro Trinkgeld bestand! Was der Gast nicht akzeptierte, erst recht nicht nach dieser dreisten Nummer.
Selbstwert ist von Natur aus friedlich
Wie man es dreht und wendet: Viele zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen lassen sich auf ein zu geringes Selbstwertgefühl zurückführen – vom Ehestreit bis zum Angriffskrieg. Wir tun also gut daran, für uns selbst zu sorgen und unseren Selbstwert zu hegen und zu pflegen. Und so nicht abhängig davon zu sein, wie andere uns bewerten (oder abwerten).
Deinem Selbstwertgefühl ist es egal, wie du aussiehst
Denn: Echter Selbstwert wird nicht durch Geld, Prestige, Besitz oder Aussehen definiert. Er wird auch nicht höher durch Anerkennung oder Lob von anderen Menschen. Er wird erst recht nicht gestärkt durch das Abwerten von Anderen.
Echter Selbstwert ist übrigens auch nicht egoistisch. Er basiert schlicht auf Selbstliebe. Je mehr du dich liebst, desto mehr bist du dir selbst wert.
Selbstwert wird einzig und allein dadurch definiert, wie wir uns selbst bewerten und einschätzen, wenn gerade niemand hinsieht – ob mit oder ohne Sportwagen.
Diese Kolumne erscheint auch im Magazin #schmetterlingsfrequenz No. 3, Schwerpunkt: Selbstwert: Steh zu dir – echt und ganz. Mit tiefgehenden Inhalten und leichten Impulsen für einen optimalen Selbstwert.
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