Die Sache mit der Zeit

Vor einiger Zeit habe ich Michael Endes Buch „Momo“ wieder gelesen. Das Buch ist ein Klassiker – nicht nur für Kinder.

Obwohl es schon 1986 erschien (und in 46 Sprachen übersetzt wurde), haben wir Menschen scheinbar nichts daraus gelernt.

Das Mädchen Momo, das alleine am Rande einer Stadt lebt, wird von ihren Mitmenschen geschätzt, weil es so gut zuhören kann. Und weil es immer Zeit hat.

Damit ist sie den grauen Herren, den Zeitdieben, ein Dorn im Auge. Denn deren Ziel ist es, die Zeit der Menschen zu stehlen, um ihre eigene Existenz zu sichern.

Deshalb machen sie den Menschen unverblümt klar, dass diese sich nicht mit zeitfressenden Dingen wie Plaudern mit anderen Menschen, Spielen mit ihren Kindern oder Versorgen von Haustieren beschäftigen sollen. Selbst das Genießen von Mahlzeiten sollen sie auf das Nötigste reduzieren.

All diese Zeit sollen sie einsparen und auf der Zeit-Sparkasse anlegen, damit sie sich vermehrt.

Obwohl beim Lesen der Geschichte deutlich wird, dass dies ein mieser Verkäufertrick mit irreführenden Versprechungen ist, wird bei einem zweiten Blick darauf klar, dass wir Menschen freiwillig vieles genau so handhaben, wie es die grauen Herren im Buch verlangen.

Für Effizienz und Rendite wird Zeit an allen Ecken und Enden eingespart. Nur wofür genau diese Zeit genutzt wird, das ist nicht klar! Oft wird sie totgeschlagen (welch eine Beschreibung), indem unnützes Zeugs mit elektronischen Geräten getan wird.

Die Geister, die wir riefen

 

Ob das eine Erklärung ist für ein scheinbar neuartiges Phänomen, das seit einiger Zeit sein Unwesen treibt?

Ich spreche vom Ghosting

Was das ist? Hier die Definition von Wikipedia:

Unter dem Begriff Ghosting (von englisch ghost: Gespenst, Phantom) versteht man den abrupten, vollständigen Abbruch des Kontaktes in einer sozialen Beziehung (z. B. Partnerschaft oder Freundschaft) durch eine Partei, und zwar ohne Vorwarnung oder Erklärung dafür. Das bedeutet für das Gegenüber (Opfer des Ghosting), dass mögliche Kontaktversuche ins Leere laufen.

Das kommt vor in Freundschaften – wie ich selbst schon vor zwanzig Jahren ziemlich schmerzhaft erlebt habe, als es den Begriff Ghosting noch gar nicht gab.

Es passiert in Partnerschaften: Früher kehrte man vom Zigarettenholen nicht mehr zurück, heute blockiert man Telefonnummern und macht sich aus dem Staub.

Das gibt es sogar im Geschäftsleben: Bei Bewerbungsprozessen etwa, halten sich Leute nicht an Zusagen (Unternehmen) oder halten Termine nicht ein (Jobsuchende), ohne sich zu erklären.

Sich so zu verhalten ist nicht nur nervig, sondern schlicht: unanständig.

In vielen Fällen des Ghostings steckt wohl die Angst vor der Reaktion der anderen Person dahinter, wenn sich Menschen lieber „tot stellen“, als das Gespräch zu suchen oder eine kurze Nachricht zu verfassen. Manchmal ist es auch einfach nur Bequemlichkeit.

Natürlich gibt es Fälle, in denen ein Untertauchen für die Ewigkeit empfehlenswert ist, weil Leib und Leben davon abhängen. Für solche Fälle wurden Zeugenschutzprogramme erfunden.

Was definitiv kein Ghosting ist

 

In letzter Zeit entdecke ich immer wieder „Beschwerden“ in den sozialen Medien über das Ghosting. Dabei geht es in der Regel nicht um das Abbrechen von Beziehungen, sondern um das zu späte oder nicht stattfindende Erscheinen zu einem Termin.

Hier ein erfundenes, aber wirklichkeitsnahes Beispiel:

Schon wieder ist es passiert: Ich bin im Online-Termin, warte minutenlang und mein Gesprächspartner taucht einfach nicht auf! Frustriert beende ich das Meeting und setze einen wütenden Post über Ghosting in meinem Lieblings-Netzwerk ab!

Es folgen wortreiche Begründungen, warum es unverschämt ist, dass andere Menschen die eigene, so knappe Zeit nicht wertschätzen.

Dass das Schreiben eines solchen Posts und die Interaktion damit vermutlich mehr Zeit kostet, als die paar Minuten des Wartens im Zoom-Raum, wird selbstverständlich nicht thematisiert!

Gerade jüngere Leute scheinen so von den Sofort-Reaktionen in den (a)sozialen Medien „verwöhnt“ zu sein, dass ihnen fünf Minuten Warten unzumutbar erscheint. Was sie wohl beim Arzt tun? Vermutlich Zeit totschlagen per Smartphone.

Das ist kein Ghosting, denn: Es gibt oft erklärbare Gründe

 

Es passiert den Besten von uns, dass Termine durchrutschen oder sich Verzögerungen ergeben: aus Versehen, weil sich andere Termine verschieben, aus technischen Gründen, wegen Krankheit oder es passiert etwas Unvorhergesehenes durch höhere Gewalt. Wer es nicht schafft, rechtzeitig abzusagen, sollte wenigstens im Nachhinein um Entschuldigung bitten und eine Erklärung mitliefern. Das ist anständig.

Überhaupt: Nicht alle Menschen nehmen Pünktlichkeit so ernst wie wir in Deutschland. Während ich in südlicheren Ländern lebte, habe ich Geduld gelernt. Hätte ich nach fünf Minuten Warten schon die Flinte ins Korn geworfen, hätte ich wohl kein Sozialleben gehabt.

Selbst unter uns Deutschen herrscht ein unterschiedliches Zeitgefühl vor. Ein Mitsänger in meinem Chor kommt grundsätzlich erst zur Probe, nachdem das Einsingen vorbei ist. Manche Teilnehmenden an meinen Online-Veranstaltungen sind schon eine Viertelstunde vor Beginn da, andere tauchen auf, nachdem die Vorstellungsrunde vorbei ist. Einzelne kommen gar nicht.

Was sind No-Shows?

 

Aus meiner Zeit in der Hotellerie ist mir der Begriff der No-Shows intensiv bekannt. Das sind Leute, die trotz Reservierung nicht anreisen, egal ob es um ein Zimmer, die Teilnahme an einer Veranstaltung oder um einen Tisch zum Essen geht. Das ist ärgerlich, weil die Betriebe mit den Reservierungen kalkulieren und in solchen Fällen Umsatz fehlt. Kein Wunder, dass es immer öfters heißt: Bezahlung bei Buchung!

Mit Ghosting hat dieses unsägliche Verhalten übrigens nichts zu tun. Denn in der Regel besteht ja noch gar keine wirkliche Verbindung, die abgebrochen werden könnte. Die Menschen entscheiden sich hingegen, den Kontakt gar nicht erst auszuweiten und scheuen, wie beim Ghosting, die Konfrontation.

Echtes Ghosting kann sehr lange schmerzen

 

Wir sehen also, neben dem einfachen „Zuspätkommen“ und dem unhöflichen „Gar-Nicht-Auftauchen“ ist echtes Ghosting deutlich unangenehmer. Vor allem im privaten Umfeld kann es immens schmerzhaft sein.

Ich habe die Ghosting-Geschichte, die ich vor zwei Jahrzehnten erlebt habe, nicht öffentlich thematisiert. Viel zu verletzt habe ich mich gefühlt, und viel zu stark wurde ich von Selbstzweifeln geplagt, als dass mir dafür ein Instagram-Posting geholfen hätte (wenn es das damals schon gegeben hätte).

Es hat viele Monate der Unsicherheit und zahlreiche Nachfragen von mir gedauert, bis ich schließlich herausgefunden hatte, was der Grund für den Kontaktabbruch der Freundin war. Sie schrieb mir einen seelenlosen Brief, in welchem sie mir konkrete Vorwürfe machte. Das tat weh, aber immerhin kannte ich nun die Motivation für ihr Verhalten.

Rund 10 Jahre habe ich gebraucht, um mit der Situation innerlich endgültig meinen Frieden zu schließen.

Noch einmal mehr als 10 Jahre später passierte das unglaublich Unwahrscheinliche: Ich habe die Person unverhofft getroffen. Das Universum hat es so eingefädelt, dass es kein Entkommen gab.

Was ich getan habe? Ich bin auf sie zugegangen und wir hatten ein kurzes, nettes Gespräch. Das war’s. Keine Wehmut, kein Schmerz, keine Vorwürfe. Aber auch kein Wiederaufflammen der Freundschaft.

Stattdessen: Das wohltuende und abschließende Gefühl, dass es endlich gut ist.

 

PS: Hast du Erfahrungen mit Ghosting oder No-Shows gemacht? Wie empfindest du die heutige lapidare Umgehensweise mit Zeit und Terminen?

Was ist deine Perspektive auf dieses Thema?

Füge sie gerne hinzu.

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Danke vielmals.

Gabriele Feile

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