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Ich gebe zu: Ich bin überfordert.

Trotz meiner Gabe, das große Ganze im Blick zu halten und Zusammenhänge rasant zu erkennen, fällt es mir seit einiger Zeit schwer, den Überblick und den Durchblick zu behalten. Je weiter ich hinauszoome, desto mehr verschwinden die Details. Dann über-sehe, über-höre oder über-lese ich einiges. Manches ignoriere ich auch – bewusst.

Die Folge: Ich werde überrumpelt von den Schlagzeilen, die durch die sozialen Medien gejagt werden, wie früher die Sau durchs Dorf.

Heute sind es ganze Herden von Säuen, hinter denen die Meute her ist. Schnell werden aus den Rüsseltieren Tiere mit Hörnern. Bei genauem Hinsehen erkennt man sie als Sündenböcke.

Sündenböcke zeichnen sich heutzutage dadurch aus, dass sie als bequeme Transportmöglichkeit der eigenen Unzulänglichkeiten genutzt werden können. Der Sündenbock ist an allem schuld, also wird er in die Wüste geschickt – auf Nimmerwiedersehen.

Aus der jahrtausendealten jüdischen Tradition, einen Bock symbolisch mit den Sünden des Volkes zu beladen und in die Einöde zu schicken, wurde ein Hobby, dem sich heute nicht nur Menschen in der Politik gerne widmen.

Doch Obacht: Dem Bock wurden die Sünden und die Schuld seinerzeit nicht zugeschoben.

Vorab mussten die eigenen Sünden – persönlich wie gesellschaftlich – öffentlich gestanden werden. Der Hohepriester hielt währenddessen seine Hände auf den Sündenbock, der das Pech hatte, für diese undankbare Aufgabe ausgelost worden zu sein. Damit er garantiert nicht zurückkam, wurde er übrigens eine Klippe hinabgestürzt.

In der Neuzeit hat sich zunehmend eingebürgert, anderen Menschen bequem die Verantwortung für die eigenen Unterlassungen, Sünden und Fehler aufzuhalsen. Sie tragen auch Schuld daran, wenn das eigene Leben nicht genügend Status, Ruhm, Sicherheit oder Geld abwirft.

Der Unterschied: Die heutigen Sündenböcke werden nicht ausgelost, sie werden willkürlich ausgewählt. Wer Pech hat, wird zum Sündenbock für Tausende oder Millionen Menschen. Einfach, weil es praktisch ist.

 

Lernen aus der Geschichte

 

Extreme Ausmaße nahm diese Praxis vor bald 100 Jahren in Deutschland und Europa an, als jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern und anderen Gruppen vom Rand der Gesellschaft für so ziemlich alles die Schuld gegeben wurde. Die verheerenden Folgen wirken bis heute nach.

Ein paar hundert Jahre vorher im dunklen Mittelalter waren es Frauen und weitere Randgruppen, die auf dem Scheiterhaufen ihr Leben lassen mussten. Sie wurden für all das verantwortlich gemacht, was damals schieflief, wie etwa jahrelange Missernten oder sterbendes Vieh.

Zum Glück werden diese historischen Ausmaße heute noch nicht erreicht. Doch der Kipppunkt ist womöglich nicht mehr weit weg. Denn auch heute lässt sich beobachten, wie Gruppen von Menschen pauschal beschuldigt werden. Es gibt für alles Sündenböcke, so scheint es, in passenden Farben und Formen.

 

Zerstörung statt Wahlkampf

 

Mein Freund, der YouTube-Algorithmus, spielt mir gerade besorgniserregend viele Videos zu, in deren Titel Wörter wie „zerstören“, „zerlegen“ oder „destroy“ vorkommen. Ein Klick verrät, dass hier Menschen gezeigt werden, die in Talkshows, im Parlament oder in einem Video von anderen verbal „auseinandergenommen“ werden. Spannend ist, dass diese Videos von Kanälen links wie rechts der Mitte betrieben werden.

Die Sprache, vor allem die deutsche, entlarvt vieles. Und sie setzt den Rahmen für das, was darunter verstanden wird. Das nennt sich „framing“. Der Frame der „Zerstörung“ ist dabei die Steigerung von „Kampf“.

Bis vor kurzem habe ich mich darüber aufgeregt, dass wir für und gegen alles kämpfen sollen: für mehr Homeoffice, für längere Kita-Öffnungszeiten, gegen den Klimawandel, für eine offene Gesellschaft und gegen Krebs.

Der Begriff Kampf löst bei mir sofort Bilder von Waffen und Opfern aus. Deshalb halte ich es für viel sinnvoller, sich für etwas starkzumachen, sich einzusetzen oder sich zu engagieren. Und doch: Im Vergleich zu „Zerstörung“ kommt der „Kampf“ fast zahm daher.

Auch wenn es bis zur nächsten großen Wahl in Deutschland noch ein wenig hin ist, haben die Söders und Merzens des Landes ihre Waffen bereits präpariert und fordern zum Duell heraus. Sie haben sich für ihre Kampagnen einen eindeutigen Sündenbock ausgewählt. Er ist dreifarbig, oft auch nur grün.

Und so langsam zeigt es Wirkung: Die Gegenseite schlägt zurück. Doch mit den ausgefeilten oder treffsicheren Antworten scheinen sie die narzisstisch veranlagten Herren noch mehr anzustacheln. Wie gut, dass zwischendurch ein Gottschalk noch was sagt. Obwohl er es doch, so seine Klage, gar nicht mehr darf.

 

Wer mit dem Finger auf andere zeigt, zeigt mit drei Fingern auf sich selbst

 

Wie froh war ich, als vor kurzem ein Lichtblick auftauchte, der mir den Glauben an ein gesittetes Miteinander und an die Fähigkeit der Menschen zur Selbstreflexion zurückgab.

Ein mittelalter Mann aus Deutschland, Gründer, CEO, erfolgreicher Podcaster, Vater und Feminist schrieb auf LinkedIn einen Post, der viel Aufmerksamkeit bekam. Im Gegensatz zu den oben genannten zeigte er nicht auf die anderen, sondern bezog sich selbst ein, als er von „Wir“ schrieb. Damit meinte er die Männer, die für das aktuelle Chaos in der Welt verantwortlich seien.

Nicht weiter verwunderlich war, dass sich reflexartig Männer davon distanzierten und ihn angriffen. Zurecht, wie sie fanden, er hätte schließlich angefangen. Und überhaupt seien doch die Frauen schuld! (vgl. Sündenbock)

 

Es könnte lustig sein, wenn es nicht so ein Trauerspiel wäre

 

Das, was Erdal Uğur Ahlatçıs schrieb, ist klar und deutlich. Ich zitiere:

 

„Wir Männer sind das Problem für den zunehmenden Fanatismus, Rassismus, Nationalismus und Demokratiefeindlichkeit, weil wir nie gelernt haben, dass echte Stärke nicht in Dominanz, sondern in Verantwortung und Verletzlichkeit liegt.

Stattdessen klammern wir uns an überholte Vorstellungen von Männlichkeit, die uns vorgaukeln, dass Macht und Kontrolle unser Geburtsrecht seien. Aber was passiert, wenn diese Macht ins Wanken gerät? Wenn die Welt sich verändert, Arbeitsplätze unsicher werden und Frauen sowie marginalisierte Gruppen ihren Platz in der Gesellschaft einfordern und bekommen?

[…]

Wir müssen lernen, dass wahre Stärke bedeutet, die Kontrolle loszulassen, zuzuhören, Fehler zuzugeben und gemeinsam nach Lösungen zu suchen – nicht in Dominanz, sondern in echter, menschlicher Verbundenheit und Solidarität.“

 

Danke, Erdal, für den Mut, das „Wir“ zu verwenden.

Wir Frauen können uns davon auch zur kritischen Selbstreflexion inspirieren lassen. Schließlich sind auch wir im Patriarchat aufgewachsen.

Auch wir lassen uns von starken Führungspersönlichkeiten einlullen. Wir geben uns zu oft mit der Weibchen-Rolle zufrieden und lassen die Männer die schmutzige und die wichtige Arbeit machen. Wir kritisieren andere Frauen, anstatt solidarisch mit ihnen zu sein.

Und gleichzeitig haben auch wir einen männlichen Anteil in uns, den wir genauso betrachten sollten, wie die Männer ihren weiblichen Anteil.

 

Dennoch sind wir Frauen eins nicht: der Sündenbock des Patriarchats. Wir sind die Opfer.

 

PS: Den ganzen Beitrag von Erdal Uğur Ahlatçıs kannst du hier lesen.

Was ist deine Perspektive auf dieses Thema?

Füge sie gerne in den Kommentaren unten hinzu.

Vielen Dank.

Gabriele Feile

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